Mahnmal „Das Blatt“

Ein beinahe unscheinbarer Durchgang auf der Axel-Springer-Straße 44-50 bringt interessierte Spaziergängerinnen und Spaziergänger in einen kleinen Hof, der einst eine wichtige Adresse in der Berliner Kultur- und Religionslandschaft war. Der Standort der ehemaligen Synagoge Lindenstraße wurde 1997 anlässlich der Ausstellung Kunst – Stadt – Raum der Berlinischen Galerie mit einem Mahnmal der Künstler Micha Ullman, Eyal Weizman und des 2023 leider verstorbenen Zvi Hecker bebaut.

Original-Zeichnungen des Büros Cremer & Wolffenstein für die Synagoge Lindenstraße

Quelle: Architekturmuseum der TU Berlin / PDF

Quelle: Architekturmuseum der TU Berlin / PDF

Auf dem Grundstück Lindenstraße/Axel-Springer-Straße 48-50 stand bis 1956 die Ruine der Synagoge Lindenstraße, die einst das größte sakrale Bauwerk Berlins war. Als Grundstückseigentümerin ließ die Barmer Ersatzkasse das Geschäftshaus zu einem Ort der Erinnerung erweitern. Gedenktafeln erinnern an die Geschichte der 1890/91 gebauten Synagoge, die 1938 geplündert, 1945 zerstört und 1956 ganz abgeräumt wurde.

Das Künstler-Trio Hecker, Ullman und Weizman wählte für sein Mahnmal einen Grundriss, der die Abmessungen der abgetragenen Synagoge aufgreift. Die aufgestellten Sitzbänke stehen an der Stelle der einstigen Bänke der Synagoge Lindenstraße. Eine bautechnisch notwendige Feuerwehrzufahrt wird in einer geschwungenen Linie über den Hof geführt, die an eine Seite, ein Blatt des Talmud erinnern soll. Die drei Schichten des TalmudMischna, Gemara und Kommentare – sind ebenfalls in der Gestaltung des Mahnmals repräsentiert. Die Bänke der Synagoge erinnern an die Vergangenheit, die Mischna. Die Vegetation, die diese Bänke mit der Zeit überwuchert und so das Vergangene zerstört, entspricht der Gemara. Wie die Talmud-Kommentare bezieht sich schließlich die Zufahrt – als Erfordernis der aktuellen Bauordnung – auf die Gegenwart. Dadurch geben Hecker, Ullman und Weizman Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit, zwischen den Sitzbänken der einstigen Synagoge zu gehen, als läsen sie zwischen den Zeilen eines universellen Textes.

Fotos: Matias Fitermann
Text: Sebastian Wehr