IMAGO – Das begehbare Porträt

Wie Friedrichshain-Kreuzberg die größte Sofortbildkamera der Welt beherbergt

Zwischen Designstudios und alten Industriehöfen steht in der Prinzenstraße 85D in Berlin-Kreuzberg ein technisches Wunder, das so gar nicht in die Zeit von Selfies und Smartphonefilter passen will. Es ist ein Raum, der gleichzeitig Kamera ist – die IMAGO Kamera, die größte Sofortbildkamera der Welt. Wer sie betritt, steht nicht mehr einfach vor einer Linse, sondern ist Teil eines optischen Experiments, das Kunst, Technik und Selbsterkenntnis miteinander verschmilzt.

Ein Koloss aus Licht und Chemie

Die IMAGO Kamera ist ein echtes, analoges Unikat, gebaut in den frühen 1970er-Jahren. Ihre Erfinder – unter ihnen der Physiker Werner Kraus – wollten beweisen, dass Fotografie auch im Maßstab des Menschen funktionieren kann. Statt Miniaturfilm und Kleinbildobjektiv entstand ein begehbares Gehäuse, groß genug, um eine Person in Originalgröße auf lichtempfindlichem Fotopapier festzuhalten. Das Ergebnis: ein lebensgroßes Schwarzweiß-Porträt, direkt entwickelt, ohne Negativ, ohne digitale Zwischenschritte.

In dieser Kamera ist alles Handarbeit und Physik. Das Licht fällt durch ein speziell berechnetes Objektiv, trifft auf ein gigantisches Direktpositivpapier und schreibt das Bild unmittelbar ein – unverfälschbar und endgültig. Jede Aufnahme ist ein Unikat, ein IMAGOgramm, wie es die Tochter Susanna Kraus des Erfinders es nennt.

Vom Forschungslabor zum Kunstprojekt

Die Geschichte der IMAGO Kamera begann in einer Zeit, in der die Welt noch an die Zukunft der analogen Technik glaubte. In den 1970er-Jahren reisten ihre Schöpfer mit dem monströsen Apparat durch Deutschland, um das Publikum zu faszinieren. Doch mit dem Siegeszug der Digitalfotografie verschwand auch das Interesse an solchen optischen Experimenten. Die Kamera landete im Lager – eingemottet, vergessen, fast verloren.

Jahrzehnte später entdeckte Susanna Kraus, die Tochter des Physikers, die alten Negative und Fotopapiere ihres Vaters wieder. Fasziniert von der Idee, ein Bild zu schaffen, das nicht bloß abbildet, sondern begegnet, restaurierte sie die IMAGO Kamera mit viel Geduld und technischem Geschick. 2011 fand sie im Aufbauhaus am Moritzplatz ein Zuhause für das Projekt. Seitdem ist die IMAGO Kamera wieder in Betrieb – als Studio, Atelier und Begegnungsort.

Das Erlebnis: Sich selbst im Maßstab 1:1

Man betritt den dunklen Kameraraum, steht vor einem riesigen Spiegel, der zugleich Sucher und Bühne ist, und wird vom Team über den Ablauf instruiert. Dann fällt der Verschluss. Ein kurzer Moment grellen Lichts, ein kaum hörbares Surren – und das Porträt entsteht, lebensgroß, direkt auf Papier.

Das Ergebnis ist ungewohnt ehrlich: keine Retusche, kein Filter, kein zweiter Versuch. Die Bilder zeigen, wie das Licht einen Menschen wirklich sieht – in voller Größe, mit allen Konturen, Schatten und Reflexionen. Es ist diese ungeschönte, fast meditative Erfahrung, die Besucher immer wieder beschreiben: ein Moment der Konfrontation mit dem eigenen Bild.

Analog gegen die Zeit

Im Zeitalter der künstlichen Intelligenz und digitalen Perfektion wirkt die IMAGO Kamera wie ein Anachronismus – und gerade deshalb so faszinierend. Während Millionen von Selfies pro Sekunde durch die sozialen Netzwerke rauschen, erzeugt diese Kamera ein einziges, unwiederholbares Porträt. Es dauert Minuten, kostet Geduld, erfordert Vertrauen.

Doch genau diese Entschleunigung ist ihr Wert. Die IMAGO Kamera macht sichtbar, was digitale Fotografie verloren hat: den Moment als unwiederbringliches Ereignis. Kein Algorithmus glättet die Haut, kein Filter korrigiert die Pose. Nur Licht, Papier und Präsenz.

Heute führt Susanna Kraus die IMAGO Kamera gemeinsam mit einem kleinen Team weiter. Neben dem Studio in Friedrichshain-Kreuzberg gibt es eine transportable Version, die auf Ausstellungen und Events eingesetzt wird. Workshops, Kooperationen mit Museen und temporäre Ausstellungen halten das Projekt lebendig.

Wie lange das Verfahren noch in dieser Form möglich bleibt, hängt auch von den Materialien ab: Das spezielle Direktpositivpapier muss aufwendig produziert werden und Ersatzteile für die Kamera sind längst nicht mehr standardisiert. Doch gerade diese Fragilität macht den Reiz des Projekts aus. Die IMAGO Kamera ist ein technisches Lebewesen, das gepflegt, gewartet und verstanden werden will.

Vom 29. November bis zum 15. Dezember 2025 wird die IMAGO Camera ein letztes Mal öffentlich zugänglich und erlebbar gemacht – im IMAGO Camera Kunstraum am Moritzplatz, dem Standort, der über Jahre hinweg der Raum des Schaffens, der Begegnung und der Inspiration war.

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Foto und Text: R. D.