Die Halbinsel Alt-Stralau

Die Halbinsel Alt-Stralau im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist ein Ort von außergewöhnlicher historischer Tiefe, dessen Besiedlungsgeschichte bis in die Steinzeit zurückreicht. Archäologische Fundstücke wie bearbeitete Feuersteine und Walzenbeile belegen, dass Stralau eines der ältesten Siedlungsgebiete im heutigen Berliner Raum ist. Vor etwa 5000 Jahren ließen sich hier germanische und slawische Fischer und Bauern nieder, die von den fruchtbaren Böden und der Nähe zum Wasser profitierten. Die geografische Lage zwischen Spree und der Rummelsburger Bucht bot ideale Voraussetzungen für die Entwicklung des Ortes.

Der Name „Stalau“ stammt aus dem Slawischen und bedeutet „Pfeilort“, eine Anspielung auf die charakteristische Form der Landzunge. Die erste urkundliche Erwähnung des Namens „Stralow“ erfolgte im 13. Jahrhundert und 1358 kaufte die Doppelstadt Berlin-Cölln das Fischerdorf sowie den Rummelsburger See vom Ritter Nicolaus Bartolpsdorf. Dieser Verkauf markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Halbinsel, da sie fortan unter städtischer Verwaltung stand. Hinweise auf den Ritterbesitz finden sich auch in den Überresten einer Burganlage aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die auf den Grundstücken Alt-Stralau 13-24 entdeckt wurden.

Alte Dorfkirche, Kapelle und Friedhof

Ein zentrales Bauwerk der Halbinsel ist die spätgotische Dorfkirche Alt-Stralau, die 1464 geweiht wurde und als ältestes erhaltenes Gebäude des Ortsteils Friedrichshain galt. Besonders bemerkenswert ist die Schieflage ihres Turms, die durch einen unzureichenden Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs entstand. Ein Bombenkrater unter dem Fundament wurde nicht ausreichend aufgefüllt, sodass sich der Boden absenkte und der Turm eine markante Neigung von etwa fünf Grad erhielt, stärker als die des berühmten schiefen Turms von Pisa. Bereits vor dem Krieg war eine leichte Schieflage dokumentiert, doch die Kriegsschäden und die fehlerhaften Bauarbeiten verstärkten das Problem erheblich. Die Kirche beeindruckt zudem durch ihre kunsthistorischen Besonderheiten wie spätgotische Glasmalereien und einen geschnitzten Altar aus dem frühen 16. Jahrhundert. Der Friedhof Alt-Stralau selbst, dessen Existenz bis ins Jahr 1412 zurückverfolgt werden kann, zählt zu den pittoresken und wenigen erhaltenen Dorffriedhöfen Berlins.

Neben diesen historischen Aspekten war Stralau auch Schauplatz des Stralauer Fischzugs, einer traditionellen Feier zur Beendigung der Schonzeit für Fische am Bartholomäus Tag. Ursprünglich eine religiöse Zeremonie, entwickelte sich das Fest zu einem Volksfest mit zehntausenden Besuchern, bevor es 1873 wegen exzessiven Feierns verboten wurde.

Die Thalia-Dorfschule

Die Thalia-Grundschule ist ein weiteres bedeutendes Bauwerk der Halbinsel, das sowohl architektonisch als historisch herausragt. Das ursprüngliche Schulgebäude wurde zwischen 1891 und 1894 errichtet und zeigt typische Merkmale der märkischen Backsteinarchitektur.

Besonders hervorzuheben ist der Turnhallenbau aus den Jahren 1928 bis 1930, entworfen vom Magistratsoberbaurat Franz Meurer im expressionistischen Stil. Die Turnhalle verfügt über zwei übereinanderliegende Hallen und einen Dachgarten, was für damalige schulhygienische Anforderungen innovativ war. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Gebäude als Lazarett, bevor es in der DDR von 1952 bis 1989 als Durchgangsheim für schwer erziehbare Jugendliche genutzt wurde. Nach umfassender Sanierung wird es seit 1998 wieder als Schule genutzt.

Die Karl Marx Gedenkstätte mit Gedenktafel

Die Halbinsel Stralau ist auch eng mit dem Aufenthalt von Karl Marx verbunden, der sich hier 1837 von gesundheitlichen Problemen erholte. Marx litt an einer Kombination aus nervöser Erschöpfung und körperlichen Beschwerden, darunter vermutlich erste Symptome seiner chronischen Hautkrankheit Hidradenitis suppurativa, die ihn sein Leben lang quälte. Auf ärztliches Anraten zog er nach Stralau, wo er bei dem Fischer und Gastwirt Köhler wohnte. Die Ruhe und ländliche Umgebung halfen ihm, seine Gesundheit zu stabilisieren, während er sich intensiv mit philosophischen Studien beschäftigte und seine späteren Ideen weiterentwickelte. Eine Gedenkstätte nahe seinem ehemaligen Aufenthaltsort erinnert heute an diese Zeit mit Reliefstelen, die Szenen seines Aufenthalts zeigen sowie sein berühmtes Zitat: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“.

Teppichfabrik Protzen & Sohn

Die industrielle Entwicklung der Halbinsel Alt-Stralau veränderte das Gesicht des einstigen Fischerdorfs grundlegend und prägte das Leben der Bevölkerung nachhaltig. Mit der Gründung der Teppichfabrik Protzen & Sohn im Jahr 1865 begann der Wandel Stralaus zum Industrie-Standort. Diese Fabrik war die erste Industrieanlage auf der Halbinsel und führte mit der Einführung des aus England stammenden Kettendrucks eine Innovation ein, die die Massenproduktion gemusterter Teppiche ermöglichte. Bis zu 500 Menschen arbeiteten hier und das Unternehmen wurde zur einer der bedeutendsten Teppichfabriken Berlins. Die Fabrikantenvilla und das Fabrikgebäude, die heute unter Denkmalschutz stehen, sind noch erhaltene Zeugnisse dieser Zeit.

Palmölspeicher

Ein weiteres bedeutendes Industriedenkmal ist der Palmkernölspeicher der Firma Rengert & Co, der 1881 am Ufer des Rummelsburger Sees errichtet wurde. Die Fabrik diente der Gewinnung von Pflanzenöl aus Palmkernen und anderen Samen, die vor allem für die Margarineherstellung benötigt wurden. Die Rohstoffe stammten aus den deutschen Kolonien in Westafrika und der für die Ölgewinnung notwendige Schwefelkohlenstoff wurde in einem eigenen Gebäude produziert. Der Speicher, ein sechsgeschossiger Bau im Neo-Renaissance-Stil mit eigenem Schiffsanleger, ist das einzig erhaltene Gebäude der einst weitläufigen Anlage und steht heute unter Denkmalschutz. Nach dem Konkurs der Firma 1899 wurde der Speicher bis in die späten 1980er Jahre als Mühle und Getreidespeicher genutzt.

Flaschenturm der Engelhardt-Brauerei

Die Engelhardt-Brauerei, deren Wurzeln auf die 1887 eröffnete Schaarschuh’sche Brauerei und die spätere Viktoria Brauerei zurückgehen, entwickelte sich nach der Fusion mit dem Engelhardt-Konzern 1917 zu einem der wichtigsten Brauereistandorte Berlins. Nach einem Brand 1926 wurde die Brauerei durch eine Mälzerei und den markanten Flaschenturm erweitert. In den 1920er und 1930er Jahren war die Engelhardt-Brauerei einer der weltweit größten Malzbierproduzenten und beschäftigte zahlreiche Arbeiter. Während der NS-Zeit wurde der jüdische Generaldirektor Nacher enteignet und während des Zweiten Weltkriegs mussten italienische Militärinternierte als Zwangsarbeiter in der Brauerei arbeiten. In der DDR-Zeit war die VEB Engelhardt Ausbildungsbrauerei und neben dem Glaswerk der größte Arbeitgeber auf Stralau. Die Produktion wurde 1990 eingestellt.

Das Zentralbüro der Stralauer-Glashütte

Von zentraler Bedeutung für die industrielle Geschichte Stralaus war auch die Glashütte, die 1889 als Stralauer Flaschenfabrik Evert & Neumann KG gegründet und 1890 in Betrieb genommen wurde. Nach einem frühen Konkurs wurde sie als Stralauer Glashütte AG neu gegründet und entwickelte sich zu einer der größten und bedeutendsten Werksanlagen der Halbinsel. Die Glashütte produzierte bis 1997, zuletzt für Beck`s, und war lange Zeit ein wichtiger Arbeitgeber der Region. Heute sind von der einst weitläufigen Anlage nur noch das ehemalige Zentralbüro, das Werkstattgebäude und zwei Wohnhäuser erhalten, die unter Denkmalschutz stehen.

Glashüttenarbeiter

Diese Industriebetriebe veränderten die soziale Struktur Stralaus grundlegend. Die Bevölkerung wuchs rasant, Arbeiter aus dem Umland und anderen Teilen Berlins zogen auf die Halbinsel und neue Mietshäuser entstanden. Die Lebensbedingungen waren oft von Enge und Armut geprägt, die Arbeitsbedingungen in den Fabriken hart und gesundheitsschädlich. Dennoch bot die Industrie vielen Menschen neue Erwerbsmöglichkeiten und führte zu einer Urbanisierung des Gebiets. Die industrielle Entwicklung brachte nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch soziale Herausforderungen und prägte das Selbstverständnis der Stralauer als Teil der Berliner Arbeiterbewegung.

Bis heute sind die erhaltenen Industriedenkmäler sichtbare Zeugnisse dieser prägenden Epoche. Die Bandbreite archäologischer Funde aus der Steinzeit, mittelalterlicher Bauwerke wie der Dorfkirche sowie moderner Denkmalensembles – darunter die Thalia-Grundschule und industrielle Bauten – verleihen Alt-Stralau eine außergewöhnliche historische Tiefe. In diesem Stadtteil begegnen sich kulturelle Zeugnisse, bedeutende Persönlichkeiten und innovative Architektur, die den Wandel des Viertels bis in die Gegenwart prägen. So bleibt Alt-Stralau ein besonderer Ort in Berlin, dessen lebendige Geschichte und einzigartiger Charme sich sowohl in den Bauwerken als auch im Geist des Ortes widerspiegeln.

Fotos, Montagen und Text: M. F.