Wie sich die Zeiten ändern …

Eine Menge Ironie lag in der Luft, als am Dienstag am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg eine Gedenktafel für Rio Reiser und die Band Ton Steine Scherben am Haus mit der Nummer 32 enthüllt wurde.

Zur Erinnerung an Rio Reiser / Ton-Steine-Scherben

Nicht nur, dass das Gebäude, in dem die Kreuzberger Band noch heute gültige Hymnen der Hausbesetzerszene wie den „Rauchhaussong“ und „Keine Macht für niemand“ schrieb, derzeit aufgrund von ebensolchen Sanierungsarbeiten eingerüstet ist, die Reiser in seinen Texten immer wieder als Mittel zur Verdrängung von ärmeren Schichten aus Berliner Innenstadtvierteln angeprangert hatte.

Auch dass nach Björn Böhning, dem Chef der Senatskanzlei des Landes Berlin, der Leiter der Unternehmenskommunikation des Energieversorgers GASAG den zweiten Redebeitrag zur feierlichen Enthüllung der von seinem Unternehmen gestifteten Gedenktafel an Reisers 17. Todestag, die im Beisein von sowohl dessen Bruder Gert Möbius als auch den verbliebenen Mitgliedern von Ton Steine Scherben und allerlei Bezirksprominenz stattfand, bedurfte einer Erklärung.

Rainer Knauber von der GASAG war sich dessen auch bewusst, als er zu einer Rede ansetzte, in der er zunächst wortreich darlegte, warum ausgerechnet sein Unternehmen eine Gedenktafel für Rio Reiser stiftet: Nämlich weil „die GASAG ein Teil dieser Stadt ist und es sich auch zum Programm gemacht hat, Zeichen zu setzen, zu helfen“, wie Knauber einleitend auf den Eingangsstufen zum Gebäude sagte, das heute die Art Berlin Contemporary beherbergt, einen Messe-Zusammenschluss privater Berliner Galerien. „Wir sehen diese Stadt nicht in erster Linie als Versorgungsgebiet, sondern auch als unsere Heimat“, so Knauber weiter, weswegen „wir auch mithelfen wollen, an Menschen zu erinnern, die in dieser Stadt und darüber hinaus Zeichen gesetzt haben“, womit er dann den Bogen zu Rio Reiser fand und schloss. Dass auch ihn persönlich, als er noch in einer südwestdeutschen Kleinstadt „die Fanfaren aus Berlin“ in Form von Liedern der Band Ton Steine Scherben erreicht hätten und er „mit diesem Sound im Ohr und der Idee davon, was in einer Stadt und auch im eigenen Leben möglich ist“, zehn Jahre später nach Berlin gekommen sei.

Jana Borkamp von den Grünen, seit Anfang August dieses Jahres Stadträtin für Finanzen, Weiterbildung und Kultur in Friedrichshain-Kreuzberg würdigte danach Reisers Anteil
an der Protestbewegung gegen Kahlabrisse im Kreuzberg der Siebziger Jahre. Borkamp erinnerte daran, dass mit dem bekannten Zitat „Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus“ aus dem „Rauchhaussong“ von 1972 die Protestbewegung gegen den Kahlschlagabriss von Kreuzberg SO 36 begonnen habe und in der Folge „nach vielen politischen Gefechten, die auf der Straße, in den besetzten Häusern und in den Parlamenten ausgetragen wurden“ sich das Konzept der „behutsamen Stadterneuerung“ durchgesetzt habe. Mit ihren Texten sei es Ton Steine Scherben gelungen, „das Lebensgefühl einer ganzen Generation wiederzugeben, sie politisch zu mobilisieren und solidarisches Handeln auszulösen“, so Borkamp.

Das anwesende Publikum würdigte die Redebeiträge mit vorsichtigem Klatschen, einzig an dieser Stelle von Borkamps Laudatio rief eine Frau dazwischen: „Was tut denn die SPD jetzt?“, wonach ein Raunen durch die Menge ging. Die Stadträtin der Grünen ging darauf aber nicht ein, sondern fuhr damit fort, auf die Ironie hinzuweisen, dass Rio Reiser nun mit einer konventionellen Berliner Gedenktafel aus Porzellan gedacht würde.

Zur Erinnerung an Rio Reiser / Ton-Steine-Scherben

„Wäre nicht eine künstlerisch gestaltete Tafel, zum Beispiel aus Ton, Steinen und Scherben angemessener gewesen?“ fragte sie und auch ob Rio Reiser mit einer solchen hochoffiziellen Würdigung durch das Land Berlin überhaupt einverstanden gewesen wäre. Zumindest auf die erste von ihr aufgeworfene Frage fand sie eine Antwort, eine recht schlichte. Der Besitzer des Hauses, ein Rechtsanwalt, akzeptierte offenbar nur diese Form der Gedenktafel, und konnte sich „eine andere Form nicht so recht vorstellen“, wie Borkamp sagte, um ihm im nächsten Satz „recht herzlich für die Kooperationsbereitschaft“ zu danken. Ironie? Danach sang auf den Eingangsstufen des baufälligen Gebäudes eine A-Capella-Gruppe das Lied „Keine Macht für niemand“ und texteten noch die Zeilen „Wir brauchen keine Mieterhöhung, wir brauchen keinen Eigenbedarf, wir brauchen keine Luxussanierung“ hinzu.

Die Idee zur Gedenktafel geht auf die Berliner Geschichtswerkstatt zurück, wie deren Vertreterin Sema Binia als abschließende Rednerin bemerkte. Es habe auch schon konkrete Ideen für die Gestaltung einer Tafel aus Ton, Steinen und Scherben gegeben. Nur: Dem 1981 gegründeten Verein fehlte es am notwendigen Geld für die Umsetzung, weswegen man sich an den Bezirk wandte, der das Projekt – offenbar zur Überraschung der Geschichtswerkstatt – unterstützte: „Das fand ich erstaunlich: Es wurde mit nur einer Gegenstimme befürwortet, dass das hier passiert“, sagte sie und würdigte ebenso wie ihre Vorredner Reiser und Ton Steine Scherben für ihr Werk, welches nicht nur als politisches Kampfmittel tauge, sondern bis heute Allgemeingültigkeit besitze: „Wenn man die Musik von Ton Steine Scherben und Rio Reiser zuhause hat, hat man eine Anleitung zum Leben“, so Binia. Anschließend ging es zur Enthüllung der Tafel, die aufgrund der derzeitigen Einrüstung des Gebäudes nur schwierig auszumachen ist. Zuerst versammelten sich die Vertreter von Politik und Gasag unter der an der baufälligen Fassade des Gebäudes angebrachten Porzellantafel, um sich von den in großer Zahl anwesenden Fotografen ablichten zu lassen. Danach – und nach offenbar langwierigen Diskussionen – standen auch die drei Ton Steine Scherben-Mitglieder R.P.S. Lanrue (hier im Bild) , Kay Sichtermann und Klaus „Funky“ Götzner für ein Foto vor der Tafel zur Verfügung.

Die Geschichtswerkstatt veranstaltet anlässlich des Todestages von Rio Reiser am 23. und 24. August Dampfertouren unter dem Titel „Scherben bringen Glück“ über den Landwehrkanal und damit auch am ehemaligen Wohnhaus von Ton Steine Scherben vorbei. Weitere Informationen und die Möglichkeit zur Vorbestellung von Tickets gibt es hier:

http://www.berliner-geschichtswerkstatt.de/news-reader/items/dampferfahrten-scherben-bringen-glueck-rio-reiser-fahrt-am-23-und-248-jeweils-1830.html